Trauriger Meilenstein: 10 Millionen Überstunden
Anfang Juni 2019 sorgte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit einer Pressemitteilung für Aufsehen: Die 45.000 Lehrer an Gymnasien, Gesamtschulen und Grundschulen hatten die Marke von 10 Millionen unbezahlten Überstunden überschritten – alleine im Bundesland Niedersachsen, versteht sich. Auf der Website wurde sogar eine Überstunden-Uhr eingerichtet, die Anfang April 2021 bei über 21 Millionen stand.
Verbunden damit war die Mitteilung, dass insgesamt zehn Lehrer das Land Niedersachsen vor dem Verwaltungsgericht Hannover verklagt hatten. Sie wehrten sich dagegen, dass sie trotz einer vorgesehenen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden tatsächlich rund 55 Stunden pro Woche arbeiten mussten, um ihr Pensum zu bewältigen. Die Lehrer konnten sich dabei auf eine Arbeitszeitstudie der Universität Göttingen berufen. Ein Jahr lang hatten 3000 Lehrer in Niedersachsen ihre Arbeitszeit minutengenau erfasst. Dabei stellte sich heraus, dass Lehrkräfte an Gymnasien im Schnitt 3 Stunden und 5 Minuten Mehrarbeit pro Woche leisteten. Bei Grundschullehrern waren es noch immer 1 Stunde und 20 Minuten.
Rektoren scheitern vor Gericht
Eine erste Klage hat das Verwaltungsgericht Hannover jedoch im Oktober 2020 abgewiesen. Ein Schulrektor hatte auf eine Mehrarbeit von mehr als acht Stunden wöchentlich hingewiesen und wollte Freizeitausgleich einklagen. Allerdings konnte er nach Ansicht der Kammer nicht erklären, wie sich die Arbeitszeitüberschreitung zusammensetzte. Die gleiche Erfahrung musste eine Grundschulrektorin machen, deren Klage einen Monat später vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück verhandelt wurde. Auch sie habe ihre individuelle Überlastung nicht deutlich machen können. Die GEW gab bereits bekannt, dass sie in beiden Fällen in Berufung gehen wird.
Klagen aus Niedersachsen symptomatisch für das ganze Land
Sind es nur die niedersächsischen Lehrer, die unter Überstunden leiden? Leider nein. Lehrer aus allen Bundesländern berichten ähnliches. Der Grund ist überall der Gleiche: Lehrermangel und die daraus resultierende viel zu dünne Personaldecke. Sobald ein Lehrer krank ausfällt, muss ein anderer Lehrer schließlich als Vertretung einspringen. In den meisten Bundesländern gelten drei zusätzliche Vertretungsstunden schon per Gesetz mit der normalen Besoldung abgegolten. Typischerweise unterrichten Lehrer je nach Bundesland und Fach 22 bis 28 Wochenstunden.
Erschwerend kommt hinzu, dass zahlreiche klassische Lehreraufgaben wie Korrekturen, Elterngespräche, Schulkonferenzen und die Begleitung von Klassenfahrten nicht als Mehrarbeit gelten. Eine Möglichkeit, wenigstens nicht noch zusätzlich mit der Planung einer durchaus komplexen Klassenfahrt belastet zu sein, sind die Leistungen eines Reiseveranstalters. Sie müssen einfach so hingenommen werden, wie die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel zum Thema schreibt. Dieser zitiert einen Sprecher des Kultusministeriums Sachsen-Anhalts, der sich um Ehrlichkeit bemüht:
"Es bringt nichts, Lehrern Freizeitausgleich im folgenden Schuljahr zu versprechen, denn die Personaldecke wird auch dann angespannt sein."
Immerhin: Erste Bundesländer bemühen sich nun darum, Lehrern die Überstunden mit Bezahlung zu versüßen. Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann wollte Pädagogen des Landes sogar zwei Angebote unterbreiten: Entweder Mehrarbeit gegen Bezahlung oder Aufbau eines Stundenguthabens mit reduzierter Arbeitszeit in einigen Jahren. Für den Schulbetrieb ist dies wahrhaft revolutionär, denn der Schlüssel des Problems liegt im deutschen Beamtenrecht: Dieses sieht zwar vor, dass Mehrarbeit mit zusätzlicher Freizeit beglichen wird, doch bezahlte Überstunden sind verboten.
Corona-Pandemie verschlimmert die Situation
Die weltweite Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns haben den Stresspegel der Lehrer noch einmal in die Höhe getrieben. Eine Sonderanalyse der DAK im Oktober 2020, also noch vor dem zweiten weitreichenden Lockdown in Deutschland, ergab, dass 90% der Lehrkräfte den Unterricht im Vergleich zum Vorjahr als deutlich anstrengender empfanden. Befragt wurden 2.300 Lehrkräfte verschiedener Schulformen in Nordrhein-Westfalen. 84% der Lehrer gaben außerdem an, dass sie Corona-bedingt noch mehr Überstunden leisten mussten als zuvor. Im Schnitt wurden sechs Überstunden pro Woche ermittelt, bei Schulleitungen sogar neun Stunden.
Dazu kommen weitere Ärgernisse, die durch Corona schonungslos offengelegt wurden. So ergab eine Umfrage des WDR tiefsitzenden Frust über die mangelnde Digitalisierung der Schulen. Dabei ging es nicht nur um fehlende Geräte und viel zu langsames schulisches WLAN. In 55% der Schulen kümmerten sich die Lehrer in ihrer Freizeit um die Wartung der Geräte – und luden sich so weitere unvergütete Mehrarbeit auf.
Laut einer Umfrage von forsa für das Deutsche Schulbarometer gab es zu Beginn des Jahres 2021 mehrere Faktoren, die die befragten Lehrkräfte stressten:
- Wenig Planbarkeit durch ständig wechselnde Bestimmungen (79%)
- Zu hohes Arbeitspensum (74%)
- Sorge um die Gesundheit der Kollegen/Schüler (72%)
- Zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Freizeit (66%)
- Mangelnde Unterstützung bei der Organisation und Gestaltung des Hybrid- oder Fernunterrichts (61%)
Mit dem Ende der Corona-Pandemie dürfte ein Ende der Überstunden jedoch nicht zu erwarten sein. Im Gegenteil: Wenn noch mehr Lehrer dauerhaft aufgrund von Depressionen und Burnout krankgeschrieben werden, wartet auf das restliche Kollegium noch mehr Arbeit.
Entlastungsmöglichkeiten für Lehrer
Die Bildungsforscherin Bärbel Wesselborg zeigt in einem Interview mit dem Deutschen Schulportal Wege aus dem Dilemma auf. Sie verweist zum Beispiel auf die Untauglichkeit des deutschen Deputatmodells, das in anderen EU-Ländern längst flexibilisiert wurde. Lehrer, die in Teilzeit arbeiten, unterrichten zwar weniger als die in Vollzeit arbeitenden Kollegen, erledigen aber die gleiche Menge Aufgaben außerhalb des Unterrichts. Hier sind Änderungen nötig, die auch diese Aufgaben auf Teilzeitniveau reduzieren.
Weitere Ansatzmöglichkeiten sind ihrer Meinung nach Veränderungen am Arbeitsplatz selbst, zum Beispiel die Möglichkeit, bestimmte Aufgaben im Schulgebäude statt zu Hause im Arbeitszimmer zu erledigen. Dadurch könnte die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben wieder schärfer gezogen werden.
Ein anderes Problem, das die Expertin anspricht, ist die Gestaltung der Pausen: Für die Schüler bedeuten die Pausen Entspannung und Erholung vom Unterricht. Lehrkräfte müssen jedoch Aufsicht führen oder andere Dinge erledigen. Für eine echte Pause bleibt da keine Zeit. Sie schlägt vor, den Unterricht gesundheitsfördernder zu gestalten. Interessanterweise wird gerade der ohnehin als altmodisch bewertete Frontalunterricht kritisiert. Bei diesem stehen die Lehrer permanent im Mittelpunkt und müssen mit allen Schülern interagieren. Schülerorientierte Lehrformen entlasten also auch die Lehrerschaft.
Am Ende der Burnout? Das muss nicht sein
Am grundlegenden Problem der deutschen Schulen – dem allgegenwärtigen Lehrermangel – können einzelne Lehrer und Schulleiter natürlich nicht viel ausrichten. Hier ist die Politik gefragt, die den Lehrerberuf attraktiver machen und zusätzliche Lehrkräfte für die Schulen gewinnen muss. Doch jeder Lehrer kann selbst auf seine psychische Gesundheit achten und den Alltagsstress mit einigen einfachen Mitteln reduzieren.
- Führen Sie ein Tagebuch, in dem Sie festhalten, was immer wieder zu Stress und Ärger führt. Haben Sie bestimmte Stressfaktoren erkannt, können Sie konkret gegen diese vorgehen.
- Leiden Sie beispielsweise immer wieder unter Zeitdruck? Identifizieren Sie die schlimmsten Zeitfresser und überlegen Sie, wie Sie diese entschärfen können. Gibt es Dinge, die Sie entweder in der Schule oder im Privatleben an andere delegieren können oder die sich effizienter erledigen lassen?
- Bauen Sie Zeitfenster für ausreichende Entspannung und Bewegung zum Stressabbau in den Tag ein. Setzen Sie sich nach der Rückkehr aus der Schule nicht direkt an den Schreibtisch im Arbeitszimmer zu Hause. Unternehmen Sie erst einen längeren Spaziergang an der frischen Luft, um Abstand von der Schule zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen.
- Versuchen Sie daneben kurze Entspannungsmomente in den Tagesablauf einzubauen: Zehn Minuten Yoga zur geistigen Stärkung am frühen Morgen, kurze Gymnastikübungen zum Auflockern zwischendurch bei stundenlangen Korrekturarbeiten oder fünf Minuten Meditation am offenen Fenster.
- Achten Sie auf gesunde Ernährung. Proteinreiche Lebensmittel fördern die Konzentration und verleihen Ihnen einen lange anhaltenden Energieschub, während Kohlenhydrate und Zucker nur für ein kurzes Hoch mit anschließendem Absturz sorgen. Essen Sie in einer Pause lieber einen zuckerreduzierten Proteinriegel mit Nüssen und Beeren statt einem süßen Teilchen aus der Bäckerei oder einem Wurstbrötchen.
- Vergessen Sie ausreichendes Trinken nicht, egal, ob Sie morgens vor der Klasse stehen oder nachmittags stundenlang am Schreibtisch sitzen. Wassermangel verdickt das Blut und lässt weniger Sauerstoff in Ihr Gehirn gelangen: Die Konzentration nimmt ab und Sie kommen langsamer voran.
- Versuchen Sie möglichst viele bildschirmfreie Zeiten einzulegen und sich ganz auf Sie selbst zu konzentrieren. Lesen Sie ein Buch statt die Timeline Ihrer Freunde bei Facebook und beobachten Sie die Vögel im Garten, statt bei einer Talkshow im Fernsehen den immer gleichen Platitüden zuzuhören.
- Ganz wichtig: Bemühen Sie sich um ausreichend Schlaf, auch wenn Sie dafür ein-zwei Stunden früher zu Bett gehen müssen. Schlaf ist unverzichtbar für den Stressabbau und lässt Sie morgens gestärkt aufwachen. Fällt es Ihnen abends schwer, zur Ruhe zu kommen, versuchen Sie es einmal mit Entspannungstechniken wie Meditation oder autogenem Training.
Alles schon versucht und Sie haben trotzdem das Gefühl, mit Ihren Problemen und Ihrem Stress nicht fertig zu werden? Suchen Sie sich professionelle Hilfe. Seit einigen Jahren wächst das Angebot enorm. Die Bundesländer haben staatliche Beratungsstellen eingerichtet und in vielen Städten können Sie private Coachings buchen. Hier finden Sie ausführliche Informationen zu diesem Thema.
Lesetipp
Linksammlung
- GEW Hessen: Pressemitteilung Überstunden
- GEW Niedersachsen: Überstunden-Uhr
- Universität Göttingen: Niedersächsische Arbeitszeitstudie
- Verwaltungsgericht Hannover: Klage Schulrektor abgewiesen
- Verwaltungsgericht Osnabrück: Klage Grundschulrektorin erfolglos
- Süddeutsche Zeitung: „Ich mache für meine Schüler Überstunden, nicht für mein Bankkonto“
- Stuttgarter Nachrichten: Lehrer sollen Überstunden machen
- Verdi: Mehrarbeit im Beamtenverhältnis
- DAK Sonderanalyse: Jede 5. Lehrkraft Burnout gefährdet
- WDR Umfrage: Digitalisierung an Schulen
- Forsa Umfrage: Deutsches Schulbarometer
- Deutsches Schulportal: Interview mit Bildungsforscherin Bärbel Wesselborg
Bildnachweis
- Titelbild: Junge erschöpfte Lehrerin: Just Dance/ Shutterstock.com
- Richterwaage: vladek / DEPOSITPHOTOS.COM
- Schülerin mit Maske im Klassenzimmer: Rido / Shutterstock.com
- Deprimierter Lehrer am Schreibtisch: Juice Flair / Shutterstock.com