Nachlassende Lesekompetenz bei deutschen Schülern
Mit schönster Regelmäßigkeit schrecken die PISA-Studien der OECD das deutsche Schulwesen auf. So auch Ende 2019. Nachdem sich die deutschen Schüler über Jahre hinweg gesteigert hatten, stand der nächste Schock ins Haus: Die Lesekompetenz deutscher Schüler war gesunken.
Allerdings müssen die Ergebnisse differenziert betrachtet werden. So liegt Deutschland im weltweiten Vergleich noch immer auf dem 20.Platz unter 79 teilnehmenden Ländern. Als problematisch wird derzeit vor allem die Tatsache betrachtet, dass jeder fünfte Schüler im Alter von 15 Jahren Texte nicht richtig verstehen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um Zeitungsartikel zum Tagesgeschehen – Stichwort Fake News – geht oder um klassische Literatur.
Fast noch interessanter ist jedoch eine andere Frage, die ebenfalls im Rahmen der PISA-Studie gestellt wurde: Die Frage nach der Freude am Lesen. Die Antworten sollten noch mehr erschrecken: Etwa die Hälfte der 15-jährigen Schüler gab an, nur zu lesen, wenn sie lesen mussten. Ein Drittel hält Lesen für Zeitverschwendung und nur ein Viertel gab an, wirklich gerne zu lesen. Dabei ist klar: Wer kaum und nur widerwillig liest, wird auch keine ausgeprägten Lesekompetenzen entwickeln.
Lust am Lesen wird Schülern ausgetrieben
In einem Interview mit Spiegel Online machte die Professorin für Literaturdidatik Christine Gerbe das deutsche Schulsystem für die mangelnde Lust am Lesen verantwortlich. So sollte in Grundschulen weit mehr vorgelesen werden, um das Interesse der Kinder an Büchern allgemein zu wecken. Statt jüngere Schüler zu früh mit komplexen und drögen Texten zu überfordern, sollte die Lesekompetenz über Jahre hinweg entwickelt werden. Wer erinnert sich nicht daran, in der Mittelstufe mit deutschen Literaturklassikern heillos überfordert gewesen zu sein? Sowohl die altertümliche Schriftsprache, als auch das Denken und Verhalten der Protagonisten waren einfach zu fremd.
Auf der anderen Seite werden beliebte Buchserien auch von Kindern und Jugendlichen begeistert verschlungen. In den 00er-Jahren wurde jedes neue Buch um Harry Potter und seine zaubernden Freunde sehnsüchtig erwartet. Kinder standen beim Mitternachtsverkauf vor Buchhandlungen Schlange und waren tagelang nicht ansprechbar, während die neuesten Abenteuer verschlungen wurden. Viele wagten sich sogar erstmals an englischsprachige Bücher, weil sie die Übersetzung nicht abwarten konnten. Anders gesagt: Mehr Harry Potter und weniger Schimmelreiter im Unterricht könnte das Interesse der Schüler am Lesen stark ankurbeln.
Wissen was die Schüler wollen
Natürlich lassen sich Lehrpläne nicht ohne weiteres umstoßen. Doch vielfach werden Schüler schon in der Unter- und Mittelstufe mit einem bildungsbürgerlichen Kanon konfrontiert, zu dem sie keinerlei Zugang haben. Was bringt es ihnen beispielsweise, mit Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“ zu ringen, wenn sie im Geschichtsunterricht nichts über die Epoche des Sonnenkönigs Ludwig XIV. und das Leben am Hof von Versailles gelernt haben? Warum sollten sie sich mit Remarques Antikriegsbuch „Im Westen nichts Neues “ auseinandersetzen, wenn der erste Weltkrieg noch keine Rolle im Unterricht spielte und sie sich keinerlei Vorstellung von den Schützengräben in Flandern machen können?
Die Berliner Bildungsexpertin und Schulsenatorin a.D. Sybille Volkholz sprach sich in einem Interview mit dem Tagesspiegel ebenfalls dafür aus, „Themen zu wählen, die einen lebensweltlichen Bezug herstellen“. Da sich Jungen meist mit dem Lesen noch schwerer tun als Mädchen, könnten dies durchaus Sportmagazine sein. Umfassende Hintergrundartikel zum Lieblingsfußballverein zeigen dem Schüler, dass sie durch das Lesen Informationen erhalten, die sie wirklich interessieren.
Lesetipp
Jugendliche lieben Graphic Novels
Auch Comic-Hefte sind eine gute Quelle. Dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um bunte Strips mit Figuren wie Donald Duck und Micky Maus. Die vor allem aus dem USA und dem französischen Sprachraum stammenden Graphic Novels und Bandes Dessinées erzählen oft tiefgründige ernsthafte Geschichten, sind jedoch für jüngere Schüler weit zugänglicher als schwere literarische Kost.
Ein berühmtes Beispiel ist „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman. Der amerikanische Autor erzählt in diesem schwarz-weiß gehaltenen Graphic Novel auf metaphorischer Ebene die Geschichte seines Vaters Wladek, der den Holocaust und Auschwitz überlebte. Aus Frankreich stammt die preisgekrönte Erzählung „Der Araber von morgen: Eine Kindheit im Nahen Osten“ von Riad Sattouf, in der er von seiner Kindheit in Frankreich, Libyen und Syrien erzählt. Zwar spielt die Handlung in den 80er-Jahren, doch Schüler erfahren hier viel über die Entstehung der heutigen politischen Situation im Nahen Osten.
Liebesgeschichten mit Realitätsbezug
Nicht zuletzt sollten Lehrer vor scheinbar banaler Jugendliteratur nicht zurückschrecken. Ein Klassiker deutscher Lehrpläne ist beispielsweise Gottfried Kellers Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, die Shakespeares berühmtes Schauspiel in die Schweiz des 19. Jahrhunderts verlegt. Sprache und Verhalten der Figuren ist heutigen Schülern jedoch fremd. Es gibt jedoch eine Vielzahl mitreißender Bücher, die ähnliche Geschichten erzählten, aber in moderner Sprache gehalten sind und in den vertrauten Lebenswelten der Schüler spielen. Ein erfolgreicher Bestseller der letzten Jahre war zu Beispiel John Greens mittlerweile verfilmter Debütroman „Eine wie Alaska“, der häufig mit J.D. Salingers Klassiker „Der Fänger im Roggen“ verglichen wird.
Passende Bücher für verschiedene Jahrgänge finden
Natürlich kann sich kein Lehrer über sämtliche Neuerscheinungen informieren. Gute Anhaltspunkte sind jährlich vergebene Preise wie der Deutsche Jugendliteraturpreis und die Berichterstattung um die großen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Daneben gibt es zahlreiche Websites mit Vorschlägen für altersgerechten Lesestoff und natürlich bieten auch die Buchhandlungen vor Ort eine umfassende Beratung an.
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Der Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V., der den Deutschen Jugendliteraturpreis vergibt, bietet jedes Jahr Praxisseminare für Lehrer zu den nominierten Büchern in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch und Jugendbuch an. Weitere Informationen finden Sie hier.
Da beliebte Jugendbücher (Young Adult Fiction) heute auch immer häufiger verfilmt wird, lohnt es sich einen Blick auf die aktuellen Hits im Kino und bei den Streamingdiensten zu werfen. Die sowohl als Bücher und als Kinofilme ungemein beliebte Young Adult-Dystopie „Die Tribute von Panem“ (The Hunger Games) von Suzanne Collina vermittelt Schülern ein eindrückliches Bild totalitärer Gesellschaften, der Manipulation der Massen durch die Medien und die Schwierigkeit eines demokratischen Neubeginns.
Ganz wichtig: Lesen ohne Druck
Schüler entwickeln sich oft zu widerwilligen Lesern, weil Schullektüre mit Lerndruck verbunden ist. Sie tun sich schwer mit dem Verständnis altertümlicher Schriftsprache oder mit dem Inhalt und werden in der nächsten Klassenarbeit auch noch mit einer schlechten Note bestraft. Kein Wunder, dass Bücher und Lesen negativ behaftet sind und sich die Schüler in der freien Zeit lieber mit YouTube-Videos und Social Media auf dem Smartphone beschäftigen.
Um die Freude am Lesen zu wecken, sollte also als erstes der Druck genommen werden. Statt benotete Klassenarbeiten zu schreiben, sollen die Schüler nur einen Aufsatz zum letzten gelesenen Buch schreiben. Der Lehrer kann so bewerten, ob das Buch überhaupt gelesen und wie es verstanden wurde. Anschließend wird das Buch im Unterricht besprochen, um Verständnisfragen zu klären.
Lesestoff für Klassenfahrten
Sehr hilfreich kann es sein, wenn Bücher mit Ausflüge und Klassenfahrten in Zusammenhang gebracht werden. Fahren die Schüler beispielsweise nach Berlin, können sie in den Wochen vor der Reise Bücher mit Berlin-Bezug lesen. So hat die Autorin Helen Endemann kürzlich den Jugendroman „Todesstreifen“ veröffentlicht, der in der letzten Phase des kalten Kriegs spielt. Schüler erhalten wertvolle Einblicke in das Leben der DDR. So wird der Besuch von Gedenkstätten und Museen bei der Klassenfahrt umso eindrücklicher.
Ein weiteres großes Thema ist der Klimawandel. Eine Klassenfahrt oder ein Tagesausflug zum Klimahaus Bremerhaven kann mit entsprechender Lektüre kombiniert werden, die den Klimawandel literarisch behandelt. Zu den empfehlenswerten Büchern der letzten Jahre gehören „Die Zeit des Skorpions“ von Michael Wallner und „Euer schönes Leben kotzt mich an“ von Saci Lloyd.
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Linksammlung
- T-Online: Pisa-Studie 2019: Deutsche Schüler schneiden schlechter ab
- Spiegel-Online: „Die Lust am Lesen wird Schülern ausgetrieben“
- Tagesspiegel: Vier Tipps, wie man Kinder zum Lesen bringt
- Jugendliteratur: Website
Bildnachweis
- Titelbild: maxbelchenko/ Shutterstock.com
- Mädchen liegt auf der Wiese mit einem Buch: lkoimages/ Shutterstock.com
- Blick auf zwei Jungs, die auf der Wiese ein Buch lesen: Helder Almeida/ Shutterstock.com